Es war ein wegweisendes Datum für die damalige Daimler-Benz AG: Im November 1945 erteilte die Wirtschaftsbehörde der US-Besatzungszone dem Stuttgarter Automobilhersteller die Produktionserlaubnis für Pritschenwagen, Kastenwagen und Krankenwagen auf Basis des Personenwagens 170 V (W 136), den das Unternehmen ursprünglich 1936 vorgestellt hatte. Im Frühjahr 1946 wurde die Lizenz auf den Personenwagen erweitert. Im Mai 1946 verließ ein Pritschenwagen als Erstes von 214 in jenem Jahr hergestellten Fahrzeugen die Endmontage im Werk Sindelfingen. Im Juni folgten der erste Kastenlieferwagen, im September ein Krankenwagen und im Oktober ein Polizeistreifenwagen. An den Stückzahlen und Zeitabständen war zu erkennen, dass die Produktionsbedingungen alles andere als normal waren. Erst Mitte 1947 folgte den kleinen Nutzfahrzeugen die viertürige Limousine 170 V. Wie wichtig die erneute Produktionsaufnahme für das Unternehmen wie Öffentlichkeit war, zeigt auch die vorhandene Pressefotodokumentation: Trotz der damals mageren Jahre ist sie umfangreich.
Der Anlauf: Nach der behördlichen Genehmigung handelte das Unternehmen rasch. Es entschied, die schon vor dem Krieg geplante Verlegung der Pkw-Endmontage von Untertürkheim nach Sindelfingen zu verwirklichen. Denn der Transport von Karosserien aus Sindelfingen ins Neckartal nach Untertürkheim war aufwändiger als die Spedition der Antriebskomponenten von Untertürkheim nach Sindelfingen. Am 22. Februar 1946 war im Werk Untertürkheim ein Vierzylinder M 136 der erste nach dem Zweiten Weltkrieg gebaute Motor. Das 1,7-Liter-Aggregat bot eine Leistung von 28 kW (38 PS).
Solide Konstruktion: Die in großen Stückzahlen bewährte Basis der ersten Nachkriegsfahrzeuge lieferte die von 1935 bis 1942 hergestellte Limousine 170 V (W 136). Der Krankenwagen hatte die meisten Parallelen: Die Hinterachsübersetzung blieb unverändert, ebenso die Größe von Felgen und Reifen (3,50 D x 16 und 5,50 x 16). Hier wie dort lag die Höchstgeschwindigkeit bei 108 km/h. Das zulässige Gesamtgewicht betrug rund 1,5 Tonnen. Bei den Pritschen- und Kastenwagen wurde der x-förmige Ovalrohrrahmen für eine erhöhte Stabilität verstärkt und war daher 40 Kilogramm schwerer. Die Nutzlast betrug 750 Kilogramm und das Gesamtgewicht knapp zwei Tonnen. Als Felgendimension hatten die Ingenieure 4,25 E x 16 gewählt und bei den Reifen 6,50 x 16. Die Hinterachsübersetzung wurde mit dem Ziel akzeptabler Fahrleistungen kürzer ausgelegt. Deswegen betrug die Höchstgeschwindigkeit beider Nutzfahrzeuge lediglich 80 km/h.
Nur das Nötigste: Die Fahrzeuge waren äußerst einfach ausgestattet. Beispielsweise war das Interieur sehr funktional gestaltet, und beim Exterieur suchte man verchromte Teile vergebens. Das unterstreicht, wie sehr es bei dieser Produktion um das Erfüllen von Basisbedürfnissen für Transport und Mobilität ging. Der herrschende Materialmangel barg zusätzliche Erschwernisse. So wurden die Fahrzeuge ohne Reifen ausgeliefert – diese musste der Kunde aus anderer Quelle beibringen.
Organisationsgeschick gefragt: Beim Karosserieaufbau der Nutzfahrzeugvarianten des 170 V musste aufgrund Materialmangels improvisiert werden. Bleche gab es kaum. So bestand das spartanische Fahrerhaus als separate Baueinheit aus einer einfachen, jedoch immerhin leichten Holzfaser-Hartplattenkonstruktion, wie schon zu Kriegszeiten bei einigen Lastwagen. Als Seitenscheiben kamen Schiebefenster zum Einsatz, die Türen wurden mit simplen Kastenschlössern arretiert. Nicht zuletzt mangels Isolation war es insbesondere im Winter kalt in diesen Fahrerhäusern – aber wenigstens war man gegen direkten Fahrtwind geschützt. Die Armaturen mit schwarzem Zifferblatt entsprachen zunächst den Instrumenten der früheren Wehrmachtkübelwagen. Ans Fahrerhaus schloss sich je nach Verwendungszweck eine Pritsche, ein Kasten- oder ein Krankenwagenaufbau an. Die Polizeipritschenwagen erhielten Plane, Spriegel und auf der Ladefläche zwei gegenüberliegende Sitzbänke. Nach der Anlaufphase ergaben sich dann doch vorzeigbare Stückzahlen: Bis zum Jahresende 1946 wurden in verschiedenen Varianten 183 der kleinen Nutzfahrzeuge sowie 31 Krankenwagen gebaut.
Personenwagen: Die Produktion der viertürigen Limousine 170 V startete im Juli 1947. Der Preis von 6.200 RM war staatlich festgelegt. Doch die Neuwagen waren nicht auf dem freien Markt zu haben. Ein Fahrzeug – ob Personenwagen, Bus, Transporter oder Lastwagen – erhielt in jenen Jahren nur, wer eine Notwendigkeit nachweisen konnte. Der 170 V war auch deshalb höchst begehrt, und so wurde er auf dem Schwarzmarkt um ein Vielfaches höher gehandelt, er wechselte für 100.000 RM oder gar 120.000 RM den Besitzer. Dies änderte sich erst mit der Währungsreform im Juni 1948. Nun wurde das Fahrzeug für 8.180 DM angeboten. Vom Juli 1948 an wurde das Interieur wieder minimal eleganter, denn es kamen – wie bereits vor dem Krieg – elfenbeinfarbene Armaturen mit schwarzen Zahlen zum Einsatz. Die Gesamtbilanz für das Jahr 1947: Es wurden immerhin 581 Personenwagen und 464 Lieferwagen hergestellt. Im Jahr 1948 stieg diese Zahl deutlich auf 4.500 Personen- und 616 Lieferwagen an. Danach ging es noch steiler bergauf, 1949 stellte Daimler-Benz von diesem damals einzigen Modell außerhalb der Lkw-Sparte 12.719 Personen- sowie 382 Lieferwagen her.
Energiequelle: Im September 1943 präsentierte Daimler-Benz einen Holzgasgenerator für den 170 V, der nur 70 Kilogramm wog. Mit einer Füllung von 24 Kilogramm Holzkohle legte ein damit ausgerüstetes Fahrzeug 100 bis 130 Kilometer zurück. Auch nach dem Krieg war Benzin zunächst noch knapp, Holz dagegen verfügbar. Die Holzgasanlage wurde daher ab Januar 1946 erneut hergestellt.
Der Zweite Weltkrieg: In den Jahren nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 wurde die Wehrmacht rasch der größte Kunde der deutschen Automobilindustrie. Daimler-Benz stellte Ende März 1940 auf Kriegsproduktion um und produzierte monatlich rund 1.000 Fahrzeuge auf Basis des Personenwagens 170 V vorwiegend als Kübel- oder Lieferwagen. Im November 1942 kam die Serienproduktion der Personenwagen 170 V und 320 (W 142) ganz zum Erliegen. Weiterhin gebaut wurden der Mannschaftswagen L 1500 A und der hauptsächlich als leichtes Feuerwehrfahrzeug verwendete 1,5-Tonnen-Lastwagen L 1500 S.
Wieder Frieden: Im März und April 1945 besetzten die Truppen der Alliierten die Werke von Daimler-Benz. Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Das Werk Untertürkheim war zu 70 Prozent zerstört, das Werk Sindelfingen zu 85 Prozent, das Werk Gaggenau zu 80 Prozent, im Werk Mannheim waren es rund 20 Prozent der Industrieanlagen. Bereits am 20. Mai 1945 wurde das Werk Untertürkheim wiedereröffnet. 1.240 Arbeiter und Angestellte gingen allerdings nicht ihren früheren Tätigkeiten nach, sondern begannen mit dem Wiederaufbau von Gebäuden und Anlagen. Nutzfahrzeuge hatten in dieser Zeit zunächst eine höhere Bedeutung als Personenwagen. Daher startete bereits im Juni in Mannheim erneut die Produktion des Dreitonnenlastwagens L 701 wie schon seit August 1944 als Lizenznachbau des Opel „Blitz“. Im August lief in Gaggenau die Fertigung des 4,5-Tonners L 4500 wieder an. Zum Jahresende 1945 waren in allen Werken der Westzonen 12.850 Mitarbeiter beschäftigt. Ende 1946 waren es schon 17.850 Mitarbeiter.
Schwierige Rahmenbedingungen: Noch zwei Jahre nach Aufnahme der Pkw-Produktion in Deutschland standen der Herstellung eines Automobils zahlreiche Hindernisse entgegen. In einer Presse-Information vom 20. Mai 1948 im Vorfeld der zum zweiten Mal ausgerichteten Exportmesse Hannover ging Daimler-Benz ausführlich auf politische wie wirtschaftliche Rahmenbedingungen ein. Ein Auszug: „Die letztjährige Exportmesse verhieß bekanntlich der Daimler-Benz A.G. insofern einen besonderen Erfolg, als es innerhalb weniger Tage gelang, Aufträge in Höhe von rund einer Million Dollar nach beinahe allen europäischen und zahlreichen Überseeländern hereinzunehmen. Von diesem Auftragsbestand konnte in den vergangenen Monaten nur ein Teil tatsächlich zur Auslieferung gebracht werden. Die Gründe hierfür sind mannigfach. Zunächst einmal erließen Schweden, Norwegen, Dänemark, Finnland, Holland, Österreich und Frankreich Einfuhrsperren, sodass in Europa nur Liefermöglichkeiten für die Schweiz, Belgien und Luxemburg verblieben.“ Hinzu kamen ganz andere Widrigkeiten, wie es weiter heißt: „Darüber hinaus ist die Exportfähigkeit […] auch durch das Fehlen zahlreicher Hilfsmaterialien behindert. […] Hierher gehören – um nur einige Beispiele zu nennen – Schleif- und Polierpaste, wasserfeste Schleifpaste, kurz Dinge, die zur Herstellung einer Hochglanzpolitur gehören. So wenig das Fehlen dieser Dinge den deutschen Käufer zu beeinflussen mag, so entscheidend sind sie dennoch für den Exportmarkt.“ Der Vorstandsvorsitzende von Daimler-Benz, Dr. Wilhelm Haspel, wendete sich mit diesen Worten an die Presse: „Die Industrie ist bei der Beschaffung von Holz, Textilien, Polstermaterial, Lack usw. in weitgehendem Umfang auf sich allein gestellt, da eine Zuweisung dieser Materialien überhaupt nicht oder völlig unzureichend erfolgt.”
Der Mercedes-Benz 170 V (W 136): Im Februar 1936 stand die Internationale Automobil- und Motorrad-Ausstellung (IAMA) in Berlin im Zeichen des Jubiläums „50 Jahre Automobilbau“. Zu den Exponaten gehörte der Mercedes-Benz 170 V mit der internen Bezeichnung W 136. Das „V“ stand für den vorn eingebauten Motor, dementsprechend hatte der ebenfalls erhältliche, aber weit weniger erfolgreiche 170 H (W 28) einen Heckmotor. Rückgrat der Neukonstruktion war der x-förmige Ovalrohrrahmen, der bei größerem Radstand rund 50 Kilogramm leichter und zudem steifer ausfiel als der bis dahin verwendete Kastenrahmen. Aus damaliger Sicht war das Fahrwerk sehr modern. Die Vorderräder waren einzeln an zwei quer liegenden Blattfederpaketen aufgehängt. Hinten kam eine Pendelachse mit Schraubenfedern zum Zug. Der Motor M 136 mit 1.697 Kubikzentimetern Hubraum, stehenden Ventilen und Steigstromvergaser leistete 28 kW (38 PS). Um eine gute Laufkultur zu erzielen, war das Triebwerk „schwebend“ in Gummi gelagert. Der M 136 galt als anspruchslos und zuverlässig.
Markterfolg: Bei der Einführung des 170 V im März 1936 waren zahlreiche Karosserievarianten bestellbar: Limousine mit zwei und vier Türen, Cabriolet-Limousine, offener Tourenwagen mit zwei Türen (1938 abgelöst von der viertürigen Version), Cabriolet B und zweisitziger Roadster. Im Mai 1936 ergänzte das sportlich-elegante Cabriolet A die üppige Modellauswahl. Die Preisspanne reichte von 3.750 RM für die zweitürige Limousine bis zu 5.980 RM für das Cabriolet A. Vom ersten Vorserienexemplar im Juli 1935 bis November 1942 wurden 91.048 Mercedes-Benz 170 V als Limousine oder offene Fahrzeuge hergestellt. So war dieser Wagen das bis dahin mit Abstand erfolgreichste Modell des Unternehmens. In einem Prospekt von 1939 ist dieser Sachverhalt treffend formuliert: „Wie sehr dieser neue Wagentyp […] den Bedürfnissen des Automarktes entspricht, beweist die Tatsache, dass der Mercedes-Benz 170 V Verkaufsziffern erreicht hat, die für einen Wagen seiner Klasse bisher unbekannt waren.“
Wichtige Grundlage: Der ab 1946 erneut produzierte 170 V war nicht nur wichtig für die Mobilität der frühen Nachkriegsjahre. Er bildete auch die Ausgangsbasis für die ersten nach dem Krieg neu konstruierten Pkw-Modelle von Mercedes-Benz: Im Mai 1949 stellte Daimler-Benz auf der Exportmesse in Hannover den Mercedes-Benz 170 D vor. Er war der erste Diesel-Pkw der Marke nach dem Krieg. Hinzu kam der vom 170 V abgeleitete, größere und repräsentativere 170 S. Die kontinuierlich erweiterte Typenreihe bildete bis 1953 das Rückgrat der Pkw-Produktion des Unternehmens.
Im Spiegel der Presse: Die „Neue Kraftfahrer-Zeitung“, Deutschland, hielt in Heft 16/1950 fest: „Die Mercedes-Benz 170 V und D gehören in puncto Fahreigenschaften, Leistung und Ausstattung etc. unbedingt zur Spitzengruppe der deutschen Personenkraftwagen.“ Die „Automobil Revue“, Schweiz, schrieb in Heft 12/1950: „Der Mercedes-Benz Typ 170 V ist aus dem jugendlichen Alter eines Autos schon lange herausgewachsen. Aber ist es nicht ein Fahrzeug, das in seiner Leistung, in seiner Anspruchslosigkeit, seiner Wirtschaftlichkeit, seiner Sicherheit, seiner langen Lebensdauer und – last not least – auch in seiner Schönheit auch heute noch den Vergleich mit den neuesten, chromschillernden Schöpfungen der Automobilmode aushält?“
Fotos: ©Mercedes-Benz
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